VOM LETZTEN VERTRETER DES ALTEN ALS WEGBEREITER DES NEUEN UND EINEM BEHARRLICHEN IRRLĂUFER DER KULTURELLEN EVOLUTION
Derzeit gibt es eine Reihe von AnsĂ€tzen, die Tradition der Kritischen Theorie wieder politisch aufzunehmen. Ăber den âNegativen Nachmittagâ und andere Versuche.
Gott und die Welt
Kolumne von Micha Brumlik
(Originally published in taz.die tageszeitung [PDF], July 3, 2012.)
Nur zu gut nachvollziehbar ist es, dass Menschen in Zeiten unĂŒberschaubarer, einander ĂŒberlagernder und durchdringender sozialer, politischer und ökonomischer Krisen eine Orientierung im Denken, einen archimedischen Punkt suchen, von dem aus das Geschehen verstĂ€ndlich und sogar verĂ€nderbar wird.
In einer Tradition des 19. Jahrhunderts hat man sich daran gewöhnt, derartige Denkanstrengungen als âradikalâ zu bezeichnen, weil sie das Ganze eben von der einen, der einzigen Wurzel erfassen wollen.
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Bisweilen verbirgt sich freilich hinter dem Wunsch, âradikalâ zu denken, schlicht die Sehnsucht nach einer unbedingten, vorbehaltlosen, am besten völlig negierenden Haltung dem Ganzen gegenĂŒber. Davon zeugt etwa das âUnsichtbare Komiteeâ mit seinem kulturreaktionĂ€ren Ekel vor der Massengesellschaft und dem revoluzzernden Schwadronieren vom âKommenden Aufstandâ.
Wunsch, radikal zu denken
Schwerer zu beurteilen sind neuere Versuche, die Tradition der Kritischen Theorie politisch aufzunehmen. So bietet etwa die Hamburger Studienbibliothek im Rahmen eines âNegativen Nachmittagsâ ein Programm an, innerhalb dessen Adornos VerhĂ€ltnis zu Lenin erörtert werden soll. Wem dies absurd erscheint, der muss zur Kenntnis nehmen, dass sich Adorno gelegentlich positiv zu Lenin geĂ€uĂert hat.
In einem Brief an Horkheimer aus dem MĂ€rz 1936 etwa moniert er an Erich Fromm, dass es sich dieser mit dem Begriff der âAutoritĂ€tâ zu leicht mache: mit einem Begriff âohne den ja schlieĂlich weder Lenins Avantgarde noch die Diktaturâ zu denken sei. Mehr noch: In aphoristischen Notizen aus dem Februar 1935 meint Adorno, dass man â anstatt Arbeiter der Verteilung von Flugzetteln zu opfern â âlieber Lenins Verhalten zu Kerenskis Revolution studierenâ möge: âseine FĂ€higkeitâ, so Adorno zustimmend, âden gesellschaftlichen Hebelpunkt zu entdecken und zu nutzen: mit minimaler Kraft die unermessliche Last des Staates zu hebenâ.
Nachsicht angebracht?
Ein Fall fĂŒr Nachsicht? Adorno war damals, 1935, zweiunddreiĂig Jahre alt, besuchte Eltern und Tante in Frankfurt, um dann im Schwarzwald Urlaub zu machen. Ein Aufsatz zum Jazz aus dem Jahr 1933, in dem vom musikalischen Einfluss der âNegerrasseâ die Rede war, ging einer 1934 in der Zeitschrift Die Musik veröffentlichen Rezension vorher, in der Adorno eine Vertonung von Gedichten des ReichsjugendfĂŒhrers von Schirach lobte, die â in seinen Worten â dem von Joseph Goebbels proklamierten âromantischen Realismusâ entspreche.
Was all das ĂŒber den systematischen Gehalt seines Werks sagt? Nichts! Ebenso wenig wie die mit gutem Grund nicht publizierten Bemerkungen zu Lenin. Er habe derlei auch noch in den 1950er Jahren zu Horkheimer geĂ€uĂert? Gut möglich, indes: Da sich Adorno in den 1960er Jahren lobhudelnd ĂŒber Theodor Heuss ausgelassen hat, wird man auch dem kein allzu groĂes Gewicht zumessen können.
Aber wie dem auch sei, Anregenderes kommt aus den USA. Auf der Homepage von Chris Cutrone, einem in Chicago wirkenden Philosophen Jahrgang 1970, steht fett gedruckt und unĂŒbersehbar âThe Last Marxistâ und darunter â wie das Amen in der Kirche â etwas kleiner: âChris Cutrone is the last marxist!â Wer meint, es hier mit unheilbarem GröĂenwahn zu tun zu haben, wird schnell eines Besseren belehrt: Cutrone, GrĂŒnder und Spiritus Rector einer sich weltweit organisierenden posttrotzkistischen, neoneomarxistischen Gruppe, bemĂŒht ein heilsgeschichtliches Motiv.
Geht es ihm doch darum, sich â wie Johannes der TĂ€ufer, der sich als VorlĂ€ufer des Messias verstand â als letzter Vertreter des Alten und somit Wegbereiter des Neuen zu prĂ€sentieren: als letzter Marxist, der den Ăbergang ins gelobte Land eines von den Gebrechen der Vergangenheit geheilten âMarxianismusâ anfĂŒhrt.
Cutrone ist geistiger Mentor der weltweit agierenden Gruppe âSchnabeltierâ, auf Englisch âPlatypusâ, die 2006 gegrĂŒndet wurde und in ihrem âstatement of purposeâ erklĂ€rt: âWe agree with the young Marx in âthe ruthless criticism of everything existingâ [âŠ]. Our present does not deserve affirmation or even respect, for we recognize it only for what came to be when the left was destroyed and liquidated itself.â
âPlatypusâ halten ĂŒbrigens eine genauestens austarierte Leseliste von Marx ĂŒber LukĂĄcs bis zu Trotzki vor, die curricular â die TextstĂŒcke sollen systematisch aufeinander aufbauen â organisiert sind.
Aber was hat all das mit jenem eigentĂŒmlichen, so gar nicht in die Evolution passenden, eierlegenden SĂ€ugetier zu tun? Nun, Friedrich Engels sah so ein Tier im Londoner Zoo und kam zu dem Schluss, dass die Vernunft der Natur allen Darwinâschen GlaubenssĂ€tzen zum Trotz keineswegs mit den jeweiligen, historisch verfestigten Standards menschlicher Vernunft ĂŒbereinstimmen muss. Kritische Theorie als beharrlicher, gleichwohl hoffnungsvoller IrrlĂ€ufer der kulturellen Evolution? | §
Micha Brumlik ist Professor fĂŒr Erziehungswissenschaft in Frankfurt am Main, Publizist und Autor der taz.